Ähnlich wie im Bereich der Wissenschaft werden mittlerweile deutschsprachige Werke von Autor:innen mit Migrationshintergrund nicht mehr ausschließlich als fremdkulturelle Beiträge verstanden. Jedoch kann noch immer nicht von einer rein auf ästhetischen Kriterien fußenden Perspektive gesprochen werden. Obwohl sich mittlerweile die Aufmerksamkeit der Rezensent:innen auch auf ästhetische wie forminhaltliche Besonderheiten richtet, sind noch immer mehrheitlich stofflich-thematische Fragen und vor allem biographisch-autorzentrierte Aspekte in den literaturkritischen Rezensionen des Feuilletons zu finden. [...] Tatsächlich beanspruchten vielzählige Rezensionen die fiktionalen Erzählwelten als authentische Belege für eigene kulturideologische Thesen, statt die Komplexität und den poetischen Eigenwert der Werke zu würdigen. Jedoch erschiene es ebenso unpassend, literarische Werke gänzlich von ihrem gesellschaftlichen Kontext und ihrer Verarbeitung im gesellschaftlichen Diskurs zu trennen. Die poetische Eigenart eines Romans lässt sich nicht isoliert behandeln, denn immerhin ist es eine der wesentlichen Eigenschaften von Literatur, sich gerade wegen ihrer ästhetisch-fiktionalen Beschaffenheit zwar in einem freien, aber dennoch in einem Verhältnis zu gesellschaftlichen Diskursen zu bewegen. Insofern widersetzt sich das beziehungsreiche Formen- und Verweisungsgefüge, welches literarischen Werken eigen ist, einer vollständigen Dekontextualisierung. Es scheint daher ein methodischer Zugriff vonnöten, der die ästhetische Eigenart der literarischen Werke ebenso wie ihre Wechselwirkung zum gesellschaftlichen Kontext und ihre diskursive Verarbeitung im Feuilleton in ihrem Zusammenhang angemessen würdigt, um sich dem Phänomen der Rezeption interkultureller Literatur im deutschen Feuilleton adäquat zu widmen und die skizzierten Widersprüche aufzuspüren. Für die folgende Analyse wird daher auf eine Kombination postkolonialer und diskursanalytischer Ansätze zurückgegriffen. Das schon erwähnte Verhältnis von Literatur und Diskurs soll in der folgenden Analyse durch den methodologischen Ansatz der Intersektionalität grundiert werden. [...] Seit einiger Zeit findet das Konzept neben den Gender- und Queer-Studies auch in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung Beachtung und soll in den folgenden Überlegungen leitend für die These sein, dass speziell in der medialen Besprechung von interkultureller Literatur diskursive Muster zu finden sind, die stereotypisierende und kulturessentialistische Kategorisierungen beinhalten, die in Wechselwirkung mit der politischen Praxis in Bezug auf Migration und den damit einhergehenden Migrationsdiskurs in Deutschland stehen. Um diese Wechselwirkung nachzuvollziehen, werden im Folgenden drei Werke der interkulturellen Literatur aus den Jahren 2003, 2006 und 2016 und deren Rezensionen näher betrachtet. Diese Werke wurden ausgewählt, weil sie im Kontext von gewichtigen gesellschaftspolitischen Wendepunkten in Deutschland seit 1990 geschrieben und im Feuilleton rezipiert wurden. So handelt Yadé Karas Roman "Selam Berlin" aus dem Jahr 2003 von der Wiedervereinigung Deutschlands und thematisiert die Restitution einer gesamtnationalen deutschen Identität. Der zweite Roman, "Leyla" von Feridun Zaimoglu aus dem Jahr 2006, erzählt die Geschichte einer türkischen Einwanderin, wurde jedoch unter den Eindrücken der Terroranschläge von 2001 und der Frage rezipiert, ob der Islam eine Gefahr für die deutsche Gesellschaft und deren Kultur sei. "Ohrfeige" von Abbas Khider aus dem Jahr 2016 wiederum erzählt die Geschichte eines nach Deutschland geflüchteten und dort abgelehnten irakischen Asylbewerbers. Rezipiert wurde dieser Roman im Kontext des jüngsten gesellschaftspolitischen Wendepunkts, der Entscheidung im Jahr 2015, die Grenzen Deutschlands für Flüchtende zu öffnen und das Schengener Abkommen außer Kraft zu setzen.
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