Die Geschichte des Büchermachens ist eine der Entfremdung. Am Beginn der Schriftentwicklung, bei Höhlenmalereien und Inskriptionen auf Steintafeln, forderte das Schreiben die ausführenden Körper in hohem Maß. [...] Mit dem Buchdruck ändert sich dieses Verhältnis von Verfasser*in und Text grundlegend. Die Typographie macht die vorausgehende Arbeit des Schreibens unsichtbar, und so haben seit der frühen Neuzeit die Entwicklung einheitlicher Papierformate, typographische Normierung und die Expansion des Buchmarktes dazu beigetragen, die Spuren, bisweilen auch die physischen Mühen der Textherstellung weitgehend zu tilgen. Auch die Poesie war dieser Technologisierung unterworfen und tritt so, früher noch als die bildende Kunst und die Musik, ins Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ein. Literatur hat damit, zumal in ihrer neuzeitlichen Entwicklungsgeschichte und im Vergleich zu anderen Künsten, ein sehr mittelbares Verhältnis zur Körperlichkeit eingenommen. Vor diesem Hintergrund ist es von Interesse, wenn sich trotz dieser Mediendispositive noch Spuren poetischer Leiblichkeit in Büchern wiederfinden lassen, zumindest in symbolischer Form. Friedrich Nietzsche, der sicherlich zu den feinsinnigsten und zugleich polemischsten Analytikern historischer Textkulturen zählt, bemerkt 1878 in "Menschliches, Allzumenschliches": "Die Kunst zu schreiben verlangt vor allem Ersatzmittel für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden, Akzente, Töne, Blicke". [...] Vielleicht ist es kein Zufall, dass er im direkt vorausgehenden Aphorismus mit dem Titel "Der Schatz der deutschen Prosa" ausgerechnet "Goethes Unterhaltungen mit Eckermann" zu "dem besten deutschen Buche, das es gibt", erklärt und anschließend überlegt, was "eigentlich von der deutschen Prosa-Literatur übrig" bleibe, "das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden?" Er nennt, als finite Liste, "Lichtenbergs Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stillings Lebensgeschichte, Adalbert Stifters Nachsommer und Gottfried Kellers Leute von Seldwyla". Auf zwei der genannten Muster deutschen Schreibstils, genauer: auf die Interventionen ihrer Körper in ihre Texte, wird dieser Beitrag eingehen. Wenn ich dabei mit Lichtenberg beginne und mit Stifter ende, ist es kein Zufall, dass zwischen ihnen mit Schiller ein Vertreter jenes Klassizismus zu stehen kommt, der gegen Johann Joachim Winckelmanns Interesse für fragmentierte Körper emphatisch das Ideal der Abgeschlossenheit und Vollendung stellte und darin auch mitverantwortlich ist für den prekären Status versehrter Poeten seither. Dass die 'Gebrechen', die ich dabei in den Blick nehme, ebenso unterschiedlich sind, wie die Verhältnisse, in denen sie zu den Werken stehen, soll auch sichtbar machen, wie komplex die Problemlage ist: Ästhetische Konzepte von (ideeller) Ganzheit und Fragmentierung interferieren auf kultureller Ebene mit medizinischen Diagnosen von Körperzuständen, die zudem religiösen oder ethischen Deutungen unterworfen werden. Dabei bleiben weder die Phänomene noch ihre Deutungen überzeitlich stabil, sondern ändern sich mit den kulturellen Kontexten und ihren jeweiligen Rückgriffen auf vergangene Auffassungen von Versehrung, sodass die Gebrechen und zum Teil auch ihre Effekte als Ergebnis von historischen Normierungspraktiken begriffen werden müssen.
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