Im Frühling 1986, auf dem mecklenburgischen Land, sind die Blüten an den Kirschbäumen förmlich explodiert - aber das Wort vom Explodieren wagt man nicht einmal mehr zu denken, seit die Nachricht sich verbreitet: Im Kernreaktor von Tschernobyl hat...
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Im Frühling 1986, auf dem mecklenburgischen Land, sind die Blüten an den Kirschbäumen förmlich explodiert - aber das Wort vom Explodieren wagt man nicht einmal mehr zu denken, seit die Nachricht sich verbreitet: Im Kernreaktor von Tschernobyl hat eine Explosion stattgefunden. Und während die Erzählerin den stündlichen Warnungen im Radio lauscht, muß sich ihr Bruder einer riskanten Gehirnoperation unterziehen. Zwei Störfälle, eine kollektive und eine individuelle Katastrophe, an einem Tag: Christa Wolfs Erzählung schildert den Einbruch des Unfaßbaren in das menschliche Leben, entfesselte Kräfte, über die wir keine Kontrolle mehr haben. Die aus diversen Textformen montierte Prosa "Störfall" - erstmals 1987 veröffentlicht (BA 7/87) - nimmt nur ein Viertel des Bandes ein: 2 für C. Wolf existenzielle Vorfälle am selben Tag (die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und die Operation am Gehirn ihres Bruders) sind verknüpft zu einem langen, tagebuchartigen Selbst- und Zwiegespräch. Es dominieren Ängste, Reflektionen, Fragen - alle mit geistigem Sprengstoff, zumal zu jener Zeit in der DDR. Der "Disput" (unter dem Titel "Verblendung" 1991 erschienen) vertieft die Problemfülle: Teils prominente Wissenschaftler, Künstler, Literaturkritiker diskutieren 1988 bis 1990 nach der Lektüre von "Störfall" und auch Wolfs "Selbstversuch" (1972, u.a. in BA 6/00) in einer Zeitschrift und bei 2 Rundtischgesprächen gemeinsam mit C. Wolf vor allem über Gefahren und Chancen von Kernenergiepolitik (nicht nur der DDR), auch über ethische Werte, "Gewissen" in der Gesellschaft und über Möglichkeiten für eine "bessere DDR" - im Kontrast zur damaligen Einheitseuphorie. Das ist heute oft vielschichtiger und erregender als der zugrunde liegende Prosatext. (Gert Kreusel)