Abstract: Der Artikel ist frei verfügbar; anstelle eines Abstract wird hier zunächst der Anfang wiedergegeben: Den Geisteswissenschaften geht es zur Zeit nicht sehr gut. In den staatlichen Schrumpfungsprogrammen, die den Universitäten in den letzten Jahren verordnet wurden – wie in Baden-Württemberg – oder die ihnen derzeit bevorstehen – wie in Nordrhein-Westfahlen -, sind es vor allem die geisteswissenschaftlichen Fächer, die Personalstellen und Sachmittel abgeben müssen – und das, obwohl der dramatische Rückgang der Studentenzahlen in den Geisteswissenschaften seit Jahren immer vorausgesagt, aber bisher nicht eingetreten ist. [1] In der Forschungspolitik des Bundes und der Länder werden Naturwissenschaften und Technologiefächer gepäppelt, und der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, gern mit der Nase weit vorn, hat die Geisteswissenschaften erst als überflüssige „Diskussionswissenschaften“ verächtlich gemacht und ihnen dann, nach Protesten, die dienende Rolle von „Akzeptanzwissenschaften“ zugewiesen. [2]
Eine solche Reproduktion und Diskriminierung trifft die deutschen Geisteswissenschaften in einer schwierigen Situation. Die Studentenlawine der 60er-Jahre, die Wechselbäder staatlicher Kulturpolitik (erst massive Aufschwemmung des Lehrkörpers, dann gewaltsame Kürzungen), eine von außen aufgezwungene Hochschulreform mit großen innerbetrieblichen Reibungen und forschungsfremden Belastungen, die Irritation der Studentenrevolte, die nur in wenigen Fächern als produktive Herausforderung begriffen wurde – all‘ diese Heimsuchungen haben die Geisteswissenschaften zwar nachhaltig auf die Notwendigkeit gestoßen, ihre Aufgabe in der Gegenwartsgesellschaft neu zu überdenken, aber sie haben diese Neubesinnung zugleich auch erheblich behindert durch die Abwehrreflexe, die sie hervorriefen, durch Überlastung, Betriebsamkeit und Isolierung des Einzelnen.
Dabei sind die Turbulenzen der jüngeren Vergangenheit nur Folge und Teil eines weiter zurückreichenden Prozesses. Die Geisteswissenschaften hatten ihre große Blüte im 19. Jahrhundert als zentrale Bildungsinstanz des deutschen Bürgertums, dessen Bedürfnis nach geschichtlicher Selbstversicherung, nach Leitbildern und nach Kompensation in einer wachsend bedrohlicher werdenden Gegenwart sie befriedigten. Von dieser Zeit trennen uns Welten. Zwei Weltkriege, der Nationalsozialismus und die Entwicklungen vom bürgerlichen Nationalstaat zur parlamentarisch verfaßten Industriegesellschaft haben die auf „Besitz und Bildung“ gegründete Selbstsicherheit des Bürgertums nachhaltig erschüttert und die Geisteswissenschaften mit ihrer klassenspezifischen Verwurzelung zugleich ihrer unmittelbaren sozialen Funktionen beraubt.
Nach 1945 haben die Geisteswissenschaften auf diese Situation mit großer Verunsicherung, in unserem Fach Literaturwissenschaft erst einmal mit krampfhaften Restaurationsbemühungen geantwortet. Die Studentenbewegung hat dann von 1965 bis in die 70er-Jahre eine intensive Diskussion über den Sinn geisteswissenschaftlicher Tätigkeit in der heutigen Welt erzwungen. Seither ist Erschlaffung eingetreten. Derzeit gibt es in den Geisteswissenschaften keinen öffentlichen Diskussionszusammenhang über die erkenntnistheoretischen und gesellschafsphilosophischen Probleme ihrer Fächer. Eine Tagung der westdeutschen Rektorenkonferenz von 1985 zum Thema „Anspruch und Herausforderung der Geisteswissenschaften“ ist ohne großes Echo geblieben [3] und wenn mein Eindruck richtig ist, dann spielt in den Veröffentlichungen meiner Kollegen und im Alltag der universitären Lehrpraxis die Frage: „Was heißt und zu welchem Ende studieren wir Geistesgeschichte?“ keine große Rolle. Der „Historikerstreit“, in dem diese Frage zumindest mitdiskutiert wurde, ist da eher eine Ausnahme.
Ich halte diese Sprachlosigkeit der Universität für falsch. Sie ist töricht gegenüber der politischen Öffentlichkeit, die ein Recht hat, von uns zu erfahren, wofür sie uns bezahlt, und sie ist verantwortungslos gegenüber unseren Studenten, die wir in ihrer, durch berufliche Perspektivlosigkeit ohnehin ratlosen Situation allein lassen mit der Frage nach dem Sinn und dem gesellschaftlichen Ort ihres Studiums. Die gegenwärtigen Versuche, Umverteilungen in der Universität und im Bildungsbereich durchzusetzen, sind offensichtlich Bestandteile eines größeren, gesamtgesellschaftlichen Prozess der Krise, des Umbaus und der Neuformierung auf vielen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Feldern. [4] Die Geisteswissenschaften aber lassen diese Entwicklung mit gelähmter Zunge über sich ergehen. Die Auseinandersetzungen über „Postmoderne“ und „Poststrukturalismus“ sind kein Ersatz für eine offene Diskussion.
Ich möchte deshalb der Wiederaufnahme der Diskussion provozieren, indem ich in großer Vereinfachung die drei Funktionsbestimmungen geisteswissenschaftlicher Tätigkeit verführe, die in den zwei Jahrhunderten ihrer bisherigen Geschichte formuliert wurden. Ich nehme dabei bewußt meinen Ausgangspunkt nicht bei der traditionellen Entgegensetzung der Geisteswissenschaft gegen die Naturwissenschaft, sondern werde erst am Ende auf diese Entgegensetzung zu sprechen kommen und ihr ihre begrenzte Stelle zuweisen. Ich werde erstens handeln von der traditionellen Selbstbestimmung der Geisteswissenschaften als Kompensation; ich werde zweitens über ein Gegenkonzept aus den Reihen der Geisteswissenschaften selbst berichten: Geisteswissenschaft als Mitwirkung; ich werde schließlich zu diesem Konzept noch einmal kritisch Stellung nehmen: Geisteswissenschaften als Kritik
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